Oralität bewirkt eine enger verknüpfte Gemeinschaft und Gemeinschaftlichkeit (Ong, 1982). Während die Schriftkultur eher die Distanziertheit und die Individualisierung fördert, birgt das gesprochene Wort eine verbindende Qualität in sich: "If oral communication keeps people together, print is the isolating medium par excellence."(Riesmann, 1960)
Der zumindest teilweise partizipatorische Charakter der neuen elektronischen Medien stellt dem eine neue Gemeinschaftlichkeit entgegen, die in vielen Punkten an die gemeinschaftliche Verbundenheit der Menschen in oralen Kulturen erinnert.
Danet spricht in diesem Zusammenhang von einer möglicherweise neu entstehenden Kultur, die weniger Wert auf Originalität legt, als auf eine Atmosphäre von "togetherness" innerhalb von auf von den Nutzern geteilten Interessen basierenden "...subgroups, dispersed in place and time". Diese Gruppenbildung aufgrund von gemeinsamen Interessen läßt sich gut am Beispiel von WWW-Chats oder IRC-Channels illustrieren.
Im IRC existieren unzählige Channels zu unzähligen Themen, von der Lösung von Computerproblemen (#mIRC, #unix) , über Channels für Cybersex der verschiedensten Art (#bifem, #femdom), bis hin zu Selbsthilfechats Depressiver (#suicide) . In diesen Channels entwickeln sich mit der Zeit Gemeinschaften, Freundschaften, Beziehungen zwischen den regelmäßigen Nutzern die auf einem gemeinsamen Interessen basierend entstehen, doch oft bald über diesen einen Interessenpunkt hinausgehen. Die örtliche Distanz wirkt dabei wie aufgehoben, nebensächlich, ebenso wird die zeitliche Distanz irrelevant insofern, als man sich jederzeit und ohne großen Aufwand mit zum Beispiel brasilianischen IRC-Bekannten "treffen" kann. Die Zeitverschiebung sorgt hier allenfalls bei der Begrüßung noch für Erheiterung.
Das Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl innerhalb solcher IRC-Channels kann so ausgeprägt werden, daß einzelne User, wenn sie sich längere Zeit nicht im IRC gezeigt haben, vermißt werden, daß sich die anderen regelmäßigen Channelbenutzer Sorgen machen und versuchen, auf anderem Wege Kontakt aufzunehmen. Einzelne User, die sich besonders gut miteinander verstehen, beschließen oft, sich außerhalb des Internet, im sogenannten real life zu treffen und nehmen dafür zum Teil weite Anreisen in Kauf. Manche Channels veranstalten sogenannte Channelparties, bei denen sich zum Beispiel alle deutschen User eines Kanals treffen und austauschen können. Solche Treffen können ganz unterschiedlich verlaufen - es kann passieren, daß man jemanden vorfindet, der überhaupt nicht mit seiner IRC-Persönlichkeit korrespondiert (s hierzu auch Kapitel 3), es kann aber auch so sein, daß man jemanden trifft, dessen Gesicht man zwar nicht kennt, der einem jedoch, aufgrund der IRC-Bekanntschaft, schon sehr vertraut vorkommt.
Natürlich können in den IRC-Channels, wie in RL-Gemeinschaften auch Antipathien und Animositäten entstehen, es kann ebenso zu Auseinandersetzungen kommen, zu Streit und zu Zerwürfnissen. Nicht jeder User eines Channels versteht sich mit jedem gleich gut, es entstehen auch hier Cliquen, die genauso gegeneinander intrigieren können, wie dies in RL-Gemeinschaften der Fall sein kann. Wenn sich die Betreiber eines Channels - gewöhnlich sind dies die Operatoren - zerstreiten, kann das so weit führen, daß der Channel sich teilt. Wenn ein Channel einen Stamm von Benutzern hat, und dieser sich auf bestimmte Regeln festgelegt hat, geschieht es auch oft, daß neue User, die sich mit diesen Regeln nicht abfinden können, hinausgeworfen werden, oder von selbst wieder gehen, nicht selten, nachdem aufs heftigste gestritten wurde.
Eine solche Gemeinschaftlichkeit kann nur aufgrund des erhöhten Maßes an Interaktion entstehen - Interaktion nicht nur zwischen Texten, sondern auch zwischen den Personen, und zwischen Personen und Texten wird wieder ein wichtigerer Faktor. Neben dem vernetzten Text - zum Beispiel dem Hypertext des WWW - existieren im Internet Netzwerke, die aus miteinander in ständigem Austausch stehenden Menschen bestehen. Bolter sieht hier eine parallele zu den Strukturen von Gemeinschaften primär oraler Strukturen, die er ebenfalls als vernetzt bezeichnet .
Bolter (1991) argumentiert, daß durch die neuen elektronischen Medien die Netzwerkmetapher die hierarchischen und linearen Metaphern verdränge, die vom geschriebenen Wort und vom Buchdruck unterstützt worden. Vernetztheit als Organisationsprinzip sei, wie in den oralen Homerschen Texten deutlich werde, älter als Schriftlichkeit selbst, sie sei in allen geschriebenen Texten latent gewesen. Durch Repetition sei sowohl im Dichter als auch in dessen Zuhörern das "Homeric network" verankert gewesen, das alle mythologischen Charaktere und deren Geschichten in sich barg. Beim Erzählen einer jeden Geschichte bezog sich der Poet auf dieses "referential network" . In der Vernetztheit des Hypertext finden wir die Struktur dieses "referential networks" wieder.
Die Forschung in diesem Bereich der CMC steckt noch in den Kinderschuhen, bislang gibt es nur vereinzelt Abhandlungen über die gesellschaftliche Struktur des Netzes. Bisher erzielte Ergebnisse deuten aber darauf hin, daß ein Faktor in den Computerkommunikationstechnologien das Erzeugen von neuen Arten von Gemeinschaften und Gemeinschaftlichkeit ist. Den Teilnehmern ist es, insbesondere im direkten Austausch, wie zum Beispiel in den Newsgroups, im IRC oder in WWW-Chats, möglich, an emotionaler, expressiver und einbeziehender Kommunikation teilzunehmen (s. December, 1993).
Die meisten Autoren legen gerade diesen stark partizipatorischen Aspekt, die Bildung von solchen Gemeinschaften, als Stärke elektronischer Kommunikation aus: sie weisen auf Frauen- und Schwulennetzwerke hin, auf den fruchtbaren Austausch zwischen Menschen, die sich, über geographische, soziale und politische Grenzen hinweg, allein auf gemeinsamem Interessen basierend, zusammentun. Kritiker, wie Neil Postman, sehen dies anders:
"Der Begriff <
Postman mag mit dieser Feststellung durchaus recht haben, insofern, als man sich im Internet seine eigene community sucht oder bildet. Der Zwang zum Eintreten in einen sozialen Verhandlungsprozeß ist dort geringer, dennoch wird dieser Dialog auch im Netz, auf andere Weise und mit anderen Schwerpunkten, geführt, wenn zum Beispiel die Verhaltensregeln in einem IRC-Channel ausgehandelt werden, aber auch, wenn die Themen der Channels selbst diskutiert werden. Auch im Netz treten Menschen miteinander in kommunikativen Austausch, und sobald dies in einem solchen Maß geschieht, daß man von Gemeinschaftsbildung sprechen kann, werden auch soziale Verhandlungsprozesse in Gang gesetzt und notwendig, auch wenn diese sich in ihrer Art von denen im realen Leben unterscheiden mögen.
Zudem scheint ein Statement wie das Postmans die Tatsache zu vernachlässigen, daß alle Benutzer des Netzes aus realen Bezugssystemen heraus agieren, in realen "communities" leben. So kann man, selbst wenn man mit Postman übereinstimmt, daß dieser Zwang zum sozialen Verhandlungsprozeß im Netz gar nicht gegeben ist, nicht davon ausgehen, daß dieser Verlust bedeutet, daß die Internetnutzer diese Art des sozialen Verhandlungsprozesses nun gar nicht mehr führen oder erlernen müßten, da sie ja alle außerhalb des Netzes existieren und sich dort mit den jeweiligen sozialen Gegebenheiten ihrer real life community zurechtfinden müssen. Damit könnte man jedoch argumentieren, daß im Netz ein Raum entsteht oder geschaffen wird, der den Nutzern eben von diesem Zwang, der ja durchaus auch eine Last darstellen kann, für die Dauer der Netznutzung zumindest zu einem Teil befreit, und ihnen somit erlaubt, sich außerhalb ihres mit der realen community ausgehandelten Spielraumes und der in diesem festgelegten Identität, oder vielmehr über diese Identität hinaus, zu bewegen und zu agieren, ja, sich sogar in neuen Rollen und Identitäten auszuprobieren.
Was Postman als Schwäche auslegt und bedauert, kann auch als Stärke gesehen werden: das Überwinden der Grenzen der real life community zugunsten einer Teilhabe an einer oder beliebig vieler selbstgewählter Gemeinschaften. Dabei wird die Ausgangsgemeinschaft - die, innerhalb derer der Nutzer im "richtigen Leben" agiert und lebt - nicht verdrängt oder abgeschafft ; der Nutzer kehrt schließlich immer wieder in diese zurück ( obgleich es sicher auch Nutzer gibt, die 'no real life' haben...Postmans scheinbare Annahme daß die Mehrzahl der User in ihrem RL keine sozialen Beziehungen unterhalten, erscheint mir nicht belegbar). Vielmehr ist sie die Basis, und die selbstgewählten online communities können als ergänzende, den Handlungs- und Interaktionsraum des Einzelnen erweiternde Gemeinschaften verstanden werden , wie in den nachfolgenden Kapiteln noch ausgeführt werden soll (s. Hierzu auch das Kapitel Internet als gesellschaftliche Superstruktur). So kann sich zum Beispiel ein junger Homosexueller, der Probleme mit seinem Coming Out hat, und in seiner Umgebung keine Ansprechpartner findet, im Internet Bestätigung, Information und Zuspruch in entsprechenden Gruppen suchen und Erfahrungen austauschen, oder sich auch, innerhalb eines virtuellen Raumes, sexuell ausprobieren, um diese Bestärkung und Erfahrung in sein 'richtiges Leben', innerhalb seiner real life community - also sowohl der Gesellschaft als auch seiner direkten sozialen Umgebung - mitzunehmen und dort zu verwerten. Gerade für Angehörige von Gruppen, die gesellschaftlich nicht vollständig akzeptiert oder anerkannt sind, entstehen hier Räume, die sie aufatmen lassen und in denen sie erfahren, daß sie auch und gerade als Angehörige dieser Gruppen akzeptiert werden und daß sie mit ihren Problemen nicht allein sind.
Ein Vorteil des Internet ist hier also, daß zum einen Angehörige gesellschaftlicher Randgruppen oder Vertreter politischer Minderheiten die Möglichkeit haben, sich in solchen online communities zusammenzufinden, Solidarität zu erfahren und sich gegenseitig zu bestärken und Erfahrungen auszutauschen; zum anderen haben die online communities, aufgrund ihres erheblich größeren "Einzugsgebietes" die Möglichkeit, größer zu werden, als Gruppen, die ihre Mitglieder aufgrund regionaler oder lokaler Begrenzung requirieren um so weltweite Solidarität miteinander zu üben, Netzwerke zu begründen und schließlich eine lautere Stimme für ihre Anliegen zu erlangen. Überdies ist im Medium Internet die Möglichkeit gegeben, daß auch diese kleine gesellschaftliche Gruppen eine Öffentlichkeit finden: Gruppen die oft weder in den kommerziellen noch in den öffentlich-rechtlichen Medien ausreichenden Raum zugestanden bekommen, haben die Möglichkeit, unter geringem finanziellem Aufwand ihr Anliegen, ihr Problem, ihr Engagement zu präsentieren. Dies führt zugegebenermaßen auch zu Auswüchsen und Mißbrauch (etwa durch die Verbreitung von Nazi-Propagandamaterial oder von illegalem pornopraphischen Material) , doch scheint es im Grunde begrüßenswert, daß mehr Menschen die Möglichkeit haben, sich und ihre Ideen, Probleme und Anliegen einer weltweiten Öffentlichkeit vorzustellen - im WWW zumindest scheint mir dieser positive Aspekt, was nicht-kommerzielle Sites angeht, momentan [noch?] zu überwiegen.
Zudem wird die mißbräuchliche Nutzung dieser neuen offenen Plattform für Meinungen und Informationen nicht kommentarlos hingenommen, sondern stößt innerhalb der Internetgemeinschaft auf qualifizierten, vehementen Widerspruch (etwa das Nizkor Projekt, das sich mit der Verbreitung von Nazi-Material im Netz aktiv und engagiert auseinandersetzt) . Auch diese Auseinandersetzungen um Inhalte von bestimmten Sites des WWW oder um das im Netz verbreitete Material zeigen, daß Postman, wenn er vom Verlust des Zwanges zum sozialen Verhandlungsprozeß spricht, die Tatsache außer acht läßt, daß das Internet zum einen innerhalb desselben, zum anderen auf die reale Welt zurückgreifend, sehr wohl zur sozialen Verhandlung aufruft und, da es von den realen Gesellschaften nicht abgeschnitten ist, auch der sozialen Verhandlungsprozeß dieser realen Gesellschaften in das Medium Internet hineintransportiert wird.
Im Internet entstehen also, je nach Nutzungsart und Anwendungsbereich verschieden Arten von Gemeinschaftlichkeit und Gemeinschaften, die zur Individualisierung des Nutzers und auch zur Trennung von Autor, Text und Textnutzer, die der Buchdruck ermöglicht, in einem gegensätzlichen Verhältnis stehen. Dies mag nicht immer sehr offensichtlich sein, etwa wenn ein Nutzer nur im WWW surft und nicht direkt in interpersonelle Kommunikation eintritt, doch selbst dort tritt er, indem er beim sogenannten surfen seinen eigenen Text schafft, in einen Dialog ein und produziert, sozusagen als Co-Autor gemeinsam mit den Autoren der einzelnen Hypertextseiten, einen neuen Text in einem Dialog mit den Texten, die er zusammenstellt, sowie mit deren ursprünglichen Autoren. Besonders deutlich werden die gemeinschaftlichen Tendenzen jedoch auch und vor allem in den mündlicher Kommunikation sehr nahe kommenden Chats.
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