"Are you often on this channel? -
"Often? I Live here!"
-aus einer Konversation im IRC, 12.4.97
Angesichts des Medienrummels rund um das Internet ist es nicht weiter verwunderlich, daß viele der verwendeten Begriffe schwammig geworden sind oder falsch angewandt werden. Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich an dieser Stelle meinen Gebrauch bestimmter Begriffe im Zusammenhang mit den verschiedenen 'Arten' von Realität erläutern. Real Life - abgekürzt RL oder rl - ist in diesem Zusammenhang die unter IRC- und vielen Internetnutzern übliche Bezeichnung für die Realität innerhalb derer sie sich physisch bewegen, also ihre Familie, ihr Wohnort, ihre Arbeit, aber auch die Gesellschaft.
Unter Virtual Reality (VR) verstehe ich die Rechensimulation von Welten, innerhalb derer man sich mit Hilfe von VR-Gear, also etwa speziellen mit Sensoren ausgestatteten Handschuhen und sogenannten VR-Helmen oder Brillen, oder sogar ganzen Anzügen, bewegt, die also dem Benutzer eine Simulation derart vermitteln, daß sie ihm ähnlich real erscheint, wie die Realität , innerhalb derer er sonst lebt. VR ist in ihren ausgefeiltesten Idealformen in der Lage eine komplette physische Erfahrung zu vermitteln.
Wie weit der Begriff VR jeweils gefaßt wird, liegt, so scheint es, im Ermessen der jeweiligen Autoren. Flugsimulatoren etwa, oder die berühmten 3D-Spiele, wie etwa Descent oder Doom, werden von einigen bereits als VR aufgefaßt, andere halten den Begriff enger und unterscheiden zum Beispiel zwischen Simulationsspielen und VR-Spielen. VR im engsten Sinne ist bislang nur wenigen Menschen zugänglich; die wirklich ausgereiften VR-Produkte sind - abgesehen von den Arcade-Spielen - vorwiegend in den Zukunftsschmieden von Mathworks oder des MIT in Boston zu finden und bislang in der Regel bei weitem zu teuer um sie profitabel einem Massenmarkt anzubieten. Da VR im Leben der meisten Menschen zum jetzigen Zeitpunkt keine oder nur eine verschwindend geringe Rolle spielt, möchte ich mich in diesem Kapitel vorwiegend mit dem Phänomen Cyberspace beschäftigen.
Der Begriff VR wird oft - und meines Erachtens fälschlicherweise - synonym mit dem Begriff Cyberspace gebraucht. Während VR vorwiegend eine Errungenschaft der fortgeschrittenen Computersimulationstechnik ist und sehr klar eingegrenzt werden kann, beschreibt der Begriff Cyberspace eine komplexere Ebene der Realität, die nur sehr schwer zu beschreiben zu sein scheint, da sie zwar zum Teil technische Bedingungen voraussetzt, doch nicht allein auf Technik basiert. Der Cyberspace entsteht auch und vor allem in den Köpfen der Benutzer, wenn sie zum Beispiel im IRC allein auf Worten basierende Welten erschaffen und sich darin, ebenfalls nur mittels Worten, bewegen (ähnliches gilt auch für graphisch orientierte Systeme) . Dennoch sind auch viele Prozesse und Dinge im Cyberspace 'virtuell', so daß im Einzelfall auf den Begriff der 'virtuellen Realität' beziehungsweise der Virtualität auch in diesem Zusammenhang zurückgegriffen werden muß.
Wenn sich also verschiedene User mit Hilfe eines oder mehrerer IRC-Server in einen IRC-Channel begeben, erschaffen sie gleichsam gemeinsam einen Raum und erfüllen ihn mit Leben. Im Kopf eines jeden dieser Benutzer entsteht dieser Raum, und gleichzeitig in der Interaktion der Beteiligten. Was gesagt wird, ist (s. Hierzu auch das Kapitel zurAnteilnahme an der Autorschaft). Wenn sich also verschieden Nutzer im Cyberspace treffen und gemeinsam einen Raum erschaffen, ist dies ein virtueller Raum und auch virtuelle Realität. Dennoch ist die Qualität einer solchen virtuellen Realität eine ganz andere als die oben beschriebene, maschinengenerierte. Wie ähnlich oder unähnlich der von den Benutzern gestaltete Raum im Cyberspace dann schließlich dem "RL" ist, hängt allein von deren Wünschen und von deren Kreativität ab, von deren Verspieltheit und von deren Fähigkeit, ihre Ideen und sich selbst in Worten auszudrücken. Die Gesetze der Physik müssen nicht gelten, oder es können innerhalb des Raumes neue definiert werden. Geld spielt keine Rolle, wenn man will, kann man seinen Cyberraum mit dem größten Luxus ausstatten. Sofern man etwas in Worten ausdrücken kann, kann es auch im Cyberspace geschaffen werden, solange man es sich vorstellen kann , kann es auch existieren. Die Existenz dessen, was entsteht, hängt allein von den Usern ab. Hierin zeigt sich die Subjektivität des virtuellen Geschehens aufs Deutlichste.
Ähnliches gilt auch für die Personen selbst: man ist, was man behauptet zu sein. Es ist im Cyberspace möglich, sich eine völlig neue Identität zuzulegen, oder auch mehrere. Das kann eine Phantasiegestalt, ein Tier oder Roboter sein, oder eine andere menschliche Persönlichkeit. Es gilt zum Beispiel unter vielen Nutzern als Tatsache , daß viele der Frauen im Internet in Wirklichkeit Männer sind . In einigen Channeln wird dies, sofern es offensichtlich ist , geahndet, doch wirklich sicher kann man sich nie sein, was für eine Person hinter dem Nickname des anderen steckt. Zahlreiche Legenden zeugen von den Verwirrungen, zu denen diese Identitätsänderungen führen können, sofern man die Identität seines Gegenübers als "die wahre" Identität annimmt, und dann, wenn man feststellt, daß die Person sich eine Netzidentität zugelegt hat, sich enttäuscht und belogen fühlt . Für viele der Nutzer jedoch ist gerade dieses sich Ausprobieren, das Spiel mit einer anderen Identität, ein Reiz, und sie haben auch kein Problem damit, daß ihre Partner in diesem Spiel möglicherweise im RL nicht sind, was sie im Cyberspace zu sein vorgeben. Eine Nutzerin sagte, hierzu befragt: "Es ist mir egal, ob es sich wirklich um eine Frau handelt, oder nicht. Wenn ich mich gut unterhalte, und gut mit dieser Person klarkomme, ist es doch völlig wurscht, wer sie am nächsten morgen im Büro ist."
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