"I Link, Therefore I Am"- Marc America, Hypertextual Consciousness
"Im Netz weiß keiner, daß sie ein Hund sind"-Mandel/ Van der Leun: Die 12 Gebote des Cyberspace
In diesem Kapitel möchte ich näher auf den Begriff der Identität im Kontext des Internet eingehen. Es erscheint einleuchtend, daß, angesichts der Omnipräsenz des Computers und der wachsenden Zahl von Menschen, die sich im Internet bewegen, das Medium Internet ebenso an der Ausbildung von Identität beteiligt ist, wie diejenigen Medien, die unsere Gesellschaft bereits prägten - um so mehr vielleicht, als dieses neue Medium seinen Nutzern eine wesentlich aktivere Rolle ermöglicht und auch abverlangt. Wie bereits erläutert, trägt der Nutzer dieses Medium zumindest einen Teil der Autorschaft, er ist in einer wesentlich aktiveren Weise an der Erschaffung von Inhalt des Mediums und an der Konstruktion von Bedeutung beteiligt, als dies etwa beim Fernsehen der Fall wäre. Wie wirkt sich aber die aktive Nutzung des Internet auf die Identität des Einzelnen aus? Bereits heute zeichnen sich in diesem Bereich Tendenzen ab, die darauf hinweisen, daß dem Begriff Identität im Online-Zeitalter neue und alte Inhalte in veränderter Zusammensetzung zukommen.
Es erscheint aufgrund der Vielzahl von Konnotationen und Nuancen, die der Begriff Identität in sich birgt, sinnvoll, einen kurzen Umriß dessen zu zeichnen, was im Zusammenhang dieser Arbeit mit Identität gemeint ist. Identität ist kein unverlierbarer Besitz und es gibt keine Garantie dafür, daß die Identität eines Menschen automatisch von Handlungspartnern über die Abfolge von Ereignissen hinweg anerkannt wird. Ebensowenig ist Identität ein festgelegtes, fixiertes Ding, das in stets unveränderlicher Form, als eine Art unantastbarer Kern des Selbst, das Zentrum einer Persönlichkeit darstellt:
Soziologische Ansätze gehen von der Identität als etwas nicht-abgeschlossenem,
sicherem, als etwas was stets durch die Konfrontation mit neuen, sich oft
widersprechenden Ansprüchen gefährdet ist. Man kann von einem dynamischen
Selbst-System sprechen, das in Konfrontation und Reibung mit einer sich
verändernden Umwelt und den damit einhergehenden Anforderungen an das
Selbst-System sich entwickelt, anpaßt, alte Schemata verwirft um neue
anzunehmen und so weiter. Der Identitätsbegriff steht dabei, je nach
Akzentuierung und Festigung in der einzelnen Person zwischen den Rollen,
die ein Mensch in Interaktion mit seiner Umwelt einnimmt, oder einzunehmen
sich gezwungen oder veranlaßt fühlt und in der Art und Weise, wie er mit
widersprüchlichen Normen und Bedürfnissen umgeht und zurechtkommt - kurz
gesagt zwischen Verwirklichung innerer Bedürfnisse und Erfüllung von außen
herangetragener Erwartungen.
Der Begriff der Identität ist eng verknüpft mit Begriffen der Interaktion
und der Sozialisation, insofern als Identität als ein Ergebnis gelungener
Sozialisation verstanden werden kann, in der das Subjekt soweit ausgebildet
ist, daß es, trotz der nicht vollständigen Erfüllung der eigenen Bedürfnisse
und widersprüchlicher Normen fähig ist, zu kommunizieren und zu interagieren,
ohne uninterpretiert und unreflektiert diesen von außen und innen auf es
einströmenden Normen und Bedürfnissen nachzugeben. Mithin kann man sagen,
daß der Erwerb kommunikativer Kompetenz, also das Aneignen von sprachlichen
und nichtsprachlichen Codes und Konventionen, mittels derer man die Umwelt
interpretieren und mit dem anderen interagieren kann, unter den
identitätsbildenden und identitätssichernden Fähigkeiten eine essentielle
Rolle einnimmt . So erscheint Interaktion, aber auch die Fähigkeit zum role
taking, sowie Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit, sich mit "angesonnenen
Erwartungen auseinandersetzen zu können" von essentieller Bedeutung (Krappmann in Lenzen 1989)).
Problematisch erscheint im Zusammenhang mit der Bildung und Wahrung von
Identität vor allem der Konflikt innerer Bedürfnisse mit von außen an
die Einzelperson herangetragenen Erwartungen und zu erfüllenden Rollen,
das Aufeinandertreffen des individuellen Anspruches auf ein bestimmtes
Selbstkonzept mit der Tatsache, daß dieses nicht unbedingt soziale
Anerkennung erfahren wird, bzw. in den Bedingungen des sozialen
Umfeldes möglicherweise nicht realisiert werden kann. Bedürfnisse
des Einzelnen haben sich nur allzu oft den Ansprüchen von außen
unterzuordnen, umgekehrt kann die Verwirklichung innerer Bedürfnisse
im Konflikt mit gesellschaftlichen Ansprüchen oder Konventionen
stehen und dementsprechend stigmatisiert sein (s. Hierzu u.a. Goffman 1975).
Aufwachsend in einer Umwelt, die ständig, und dazu nur selten offen
ausgesprochen und sofort durchschaubar, sondern zumeist auf sehr
subtile Weise mit ihren sich oft sogar widersprechenden Anforderungen
auf die einzelne Person einwirkt, indem sie die Erfüllung von Erwartungen
durch diese Person belohnt und das 'aus-der-Rolle-fallen' bestraft,
mag es im Einzelfall auch der erwachsenen Person schwer fallen,
zwischen internalisiertem Rollenverhalten und aus dem inneren
erwachsenen Bedürfnissen wirklich noch zu unterscheiden. Die
'Wahrung' der Identität, auch im Sinne eines alltagssprachlichen
Begriffes wie des 'sich selbst treu bleibens' erscheint so als
ständige Auseinandersetzung zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen
und den Anforderungen und Erwartungen der Außenwelt. Das Dilemma
des Konfliktes zwischen persönlicher und sozialer Identität
verschärft sich dann, wenn es nicht gelingt, den Widerspruch
zwischen den beiden Polen befriedigend zu überbrücken oder
auszubalancieren. Folge eines solchen Gleichgewichtsverlustes kann
, im Falle des Überwiegens der Anpassung an normative Erwartung,
das völlige Aufgehen in verschiedenen, entpersönlichten
Rollenzusammenhängen sein. Im Falle des Beharrens auf der
persönlichen Identität entsprechenden, jedoch von der Norm
abweichenden Verhaltens, kann es zu Stigmatisierung kommen.
Bestimmte Komponenten von Identität, beispielsweise das Geschlecht
einer Person, erscheinen gesellschaftlich festgelegter und weniger
differenzierbar, als sie sind, zumal wenn wir, um beim genannten
Beispiel zu bleiben, von sozialen Geschlecht einer Person, von
'gender' sprechen: beiden Geschlechtern werden noch immer
bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten zugesprochen und andere
aberkannt. Oft und noch immer erfüllen diese von frühester
Kindheit an erlernten und internalisierten Rollen, in die wir
hineinsozialisiert werden, noch ehe wir fähig sind, sie zu
reflektieren, Funktionen, die für die Gesellschaft so wichtig
sind, daß sie ein ausbrechen aus diesen Rollen mißtrauisch
beäugt und oftmals scharf sanktioniert (man denke hier nur an Konzepte wie das der "Rabenmutter"...von Rabenvätern ist in der Öffentlichkeit doch relativ selten die Rede).
Diese Erfahrung des Verwiesenwerdens in bestimmte, durch die
soziale Umwelt vorgegebene Grenzen, kann für die einzelne
Person eine so massive Beschneidung des Erfüllungspotentials
der eigenen Bedürfnisse bedeuten, die einer Verleugnung von
Aspekten der eigenen Identität so nahekommt, daß diese
Einzelperson darunter leidet. Dennoch ist es, selbst unter
Leidensdruck, für den Einzelnen sehr schwer, aus einmal
angenommenen Mustern sich zu befreien, um zu einer wirklich
eigenen, mit den inneren Bedürfnissen vereinbaren, Identität
zu gelangen, da das Abweichen von anerkannten Verhaltensschemata,
und sei es nur, um sich auszuprobieren, zumeist auf Unverständnis
oder gar Ablehnung in der Umwelt stoßen wird und dementsprechend
mit dem Gefühl der Angst vor Stigmatisierung verbunden ist.
Hier, so scheint es, könnte im Internet ein hilfreiches Potential
liegen: zum einen durch die Möglichkeit, sich selbst auch in den
im RL nicht ausgelebten Aspekten der eigenen Identität
auszuprobieren, ohne daß man seine direkte Umwelt schockiert,
verwundert oder brüskiert, zum anderen dadurch, daß man in
einer Art role taking sich in eine ganz andere, der eigenen
Identität fremden Person 'verwandeln' kann und so auch andere
Positionen besser wahrnehmen kann , indem man Erfahrungen macht,
die außerhalb der Reichweite des eigenen RL-Selbst liegen,
oder einfach nur, indem man durch das Einnehmen verschiedener
Rollen für das Vorhandensein verschiedenartiger Sichtweisen
auf neue, erfahrbare Weise sensibilisiert wird (Ein von mir interviewter 31jähriger männl. Nutzer meinte "Erst seit ich mal als Frau im netz unterwegs war, kann ich verstehen wie sehr es nervt, ständig so plump angemacht zu werden. Also ich könnte da nicht höflich bleiben [lacht] Da war es mir fast peinlich, auch ein Mann zu sein").
Wie bereits ausgeführt, ist prinzipiell für das Internet und
die Mehrzahl ihrer User davon auszugehen, daß sie ihre
'Online-Identität' frei wählen können. Das heißt nicht,
daß jeder Nutzer dies tut, für viele Nutzer scheint es
vielmehr sogar etwas anrüchiges zu sein, sich für das Netz
eine neue Identität zuzulegen. Dennoch gilt primär die Maxime:
im Netz ist man, was man vorgibst zu sein.
Was aber bedeutet es, sich im Internet eine andere Identität
zuzulegen, sich neu zu definieren in einer Repräsentation,
die vorwiegend auf Worten aufgebaut ist? Was bedeutet die
Möglichkeit des Identitätswechsels? Handelt es sich überhaupt
um einen wirklichen Wechsel, um ein Rollenspiel -
die Simulation einer Persönlichkeit gar? - oder vielmehr
nur um das Ausleben eines ansonsten unterdrückten Teils der
Persönlichkeit? Was bedeutet das Innehaben von mehreren
Online-Identitäten für die Person, die diese Identitäten
lebt? Und schließlich: wie reflektiert das Internet mit
seinen neuen Möglichkeiten auf den Identitätsbegriff selbst,
wie kann der neue Umgang mit der Identität, der durch das
Internet gegeben ist, unser Verständnis von Identität
allgemein beeinflussen? Diese und andere Fragen rund um
dem Identitätsbegriff möchte ich auf den folgenden Seiten
etwas näher beleuchten.
Copyright © 1997 I. Strübel. All Rights Reserved. Nutzung des Textes nur mit ausdrücklicher Genehmigung."Identität wird 'gewahrt', 'aufrechterhalten' oder 'behauptet',
und zwar sowohl gegen den Druck zur Anpassung an soziale Normen,
als auch gegen die Überwältigung durch Bedürfnisse, die auf Befriedigung drängen"(Krappmann in Lenzen 1989)