"You can be whoever you want,
really, whoever you have the capacity to be"
-eine MUD-Userin, von Turkle interviewt.
Im Netz ist man also, was man vorgibt, zu sein, die Persönlichkeit, als die man sich konstruiert, da die eigenen Worte - abgesehen von Indizien, wie der Login-Adresse, die in einzelnen Bereichen des IRC einen Anhaltspunkt zur Identifikation der RL-Person, die hinter dem Nicknamen steckt, einziger Anhaltspunkt für das Gegenüber sind, sich ein Bild von der jeweiligen Person zu machen.
Die Online-Präsenz ist eine wesentlich andere als die RL-Präsenz: es fehlen Anhaltspunkte wie die optische Erscheinung, die Kleidung, Gestik und Mimik. So wird es, um in Kommunikation zu treten, sich selbst ein Gesicht zu verleihen, für den Nutzer notwendig, seine Persönlichkeit verbal auszudrücken, sich für andere wahrnehmbar zu gestalten, deutlich zu machen, und aus den Worten der anderen Nutzer deren Persönlichkeit zu erschließen. Inwiefern das, was dort in Worten als Persönlichkeit gezeichnet wird, der RL-Persönlichkeit entspricht, läßt sich im Netz selbst kaum ausmachen, sofern der Nutzer es schafft, in seiner gewählten Online-Persönlichkeit schlüssig zu erscheinen, sofern er sich also nicht massiv widerspricht .
Viele Nutzer haben mehrere Online-Identitäten und leben als diese Persönlichkeiten verschiedene Leben in verschiedenen communities. Sherry Turkle berichtet von einem Studenten, Doug, der in vier verschiedenen MUDs vier verschiedene Charaktere lebt:
"One is a seductive woman. One is a macho, cowboy type whose self-description stresses that he is a 'Marlboros rolled in the T-shirt sleeve kind of guy'. The third is a rabbit of unspecified gender who wanders its MUD introducing people to each other, a character he calls Carrot. Doug says 'Carrot is so low key that people let it be around while they are having private conversations. So I think of Carrot as my passive, voyeuristic character.' Doug's fourth Character is one that he plays only on a MUD in which all the characters are furry animals. 'I'd rather not even talk about that character because my anonymity there is very important to me,' Doug says. 'Let's just say that on FurryMUDs I feel like a sexual tourist.'" (Turkle 1995)
Doug betont, daß Windows ihm ermöglicht, Teile seiner selbst ein- und auszuschalten. Befindet und agiert er in einem der Fenster , agiert er nur die diesem Fenster zugeschriebene Persönlichkeit aus, doch befinden all die Fenster sich gleichzeitig auf dem Bildschirm:
"I split my mind. I'm getting better at it. I can see myself as being two or three or more. And I just turn on one part of my mind and then another when I go from window to window. I'm in some kind of argument in one window and trying to come on to a girl in a MUD in another, and another window might be running a spreadsheet program or some other technical thing for school....And then I'll get a real-time message [that flashes on the screen as soon as it is sent from another system user], and I guess that's RL. It's just one more window. [...] and it's not usually my best one." (Turkle 1995)
Windows, die Benutzeroberfläche die einst dafür konzipiert wurde, Arbeiten am Computer effizienter gestalten zu können, ist zu einer Metapher für ein Bild des Selbst als "multiple, distributed system" geworden. Dabei korrespondiert das Bild des Selbst nicht länger mit dem Spielen oder Erfüllen verschiedener Rollen in verschiedenen Umgebungen zu unterschiedlichen Zeiten, wie dies im RL scheinbar der Fall ist, sondern das Bild eines dezentrierten Selbst, das gleichzeitig, in verschiedenen, parallel zueinander existierenden Welten existieren kann und dabei völlig unterschiedliche Rollen erfüllt:
"In traditional theater and role-playing games that take place in physical space, one steps in and out of character; MUDs, in contrast, offer parallel identities, parallel lives. The experience of this parallelism encourages treating on-screen and off-screen lives with a surprising degree of equality. Experiences on the Internet extend the metaphor of windows -- now RL itself, as Doug said, can be 'just one more window'." (Turkle 1995)
Turkle berichtet, daß viele der regelmäßigen Nutzer die Idee der Priorität des RL überhaupt anzweifeln, da die Erfahrungen, die sie in den 'körperlosen' Rollen, in MUDs oder IRC machen, für sie ebenso wichtig und real sind, wie die, die sie in dem Leben machen, in dem sie sich körperlich bewegen, und der konventionell als ihr wirkliches Leben bezeichnet wird. Für diese Nutzer ist die Konvention der Unterscheidung jedoch bereits irrelevant und nicht länger gültig. Für Sie geht es nicht um Künstlichkeit oder Natürlichkeit, um Realität oder Virtualität - die Welten, die sie im Netz besuchen, in denen sie agieren und kommunizieren sind für sie einfach ein weiterer Teil ihres Lebens. Die in den vorangehenden Kapiteln beschriebenen oralen Eigenschaften der elektronischen Kommunikation tragen dabei zum Gefühl der Unmittelbarkeit und Realität der Erfahrung ebenso bei, wie die in den tribalen Strukturen der einzelnen Internetgemeinschaften erfahrene Eingebundenheit im sozialen System der jeweiligen Gemeinschaft.
Dieses Konzept der auf Sprache basierenden Realität findet ihre Entsprechung in den Ideen von Autoren wie Deleuze/Guattari, Foucault und auch Lacan: das Selbst, das sich durch und in der Sprache konstituiert, Sexualität als Austausch von Signifikanten, und schließlich der Gedanke, daß jeder Mensch eine Vielfalt an Teilen und Fragmenten darstellt, die nach Verbindung streben.
Wenn wir uns also in die virtuellen Räume des Internet begeben, konstruieren wir das Modell unser Selbst neu, und zwar in einer erfahrbaren, postmodern anmutenden Weise: die Illusion eines Selbst entsteht als ein Diskurs, aus einem ständigen Diskurs heraus. Die Identität, das Selbst, ist niemals fixiert, sondern besteht in fließenden Übergängen, und es ist nicht nur ein Einziges, Lineares, sondern zeichnet sich durch Multiplizität aus. Wir rotieren durch verschiedene Rollen, die Teil unseres ganzen Selbst sind, so wie wir in Windows durch die verschiedene Programme repräsentierenden Fenster rotieren, um mit Hilfe mehrerer Programme gleichzeitig eine Aufgabe zu erfüllen. Im Unterschied aber zu den verschiedenen Rollen, die jeder Mensch im Alltag des RL ausfüllt, können die verschiedenen Aspekte, die das Selbst konstituieren, parallel gelebt werden.
Eine solche Erfahrung war in der Vergangenheit kaum möglich, zumal nicht in dem nun möglichen Ausmaß. Vielmehr wurde lange von einer Kernidentität ausgegangen, von einer festgelegten, inneren Richtung (s. Hierzu auch Riesmann/Glazer/ Denney 1950) . Für einige Mitglieder einer Gesellschaft gab es in der Geschichte zwar die Rotation in verschiedenen Rollen, etwa für die Schamanen in Stammesgesellschaften, zu deren Selbst es gehörte, daß zeitweise Geister oder Dämonen von ihnen Besitz ergriffen. Grundsätzlich haftete jedoch der Idee des Fließens, dem Gedanken, daß ein Mensch viele, möglicherweise sogar gegensätzliche Identitäten in sich vereint, und daß gerade diese Vielheit die Identität ausmacht, jahrhundertelang eine Komponente des außergewöhnlichen und besonderen, und oft genug sogar des unheimlichen an . Noch weiter entfernt von dieser Tendenz zur Reduktion des Selbst auf eine Einheit ist der Gedanke der gleichzeitigen, parallelen Vielheit.
Turkle betont wie schwer es, auch in neuerer Zeit, als die Ideen von Lacan und Deleuze/Guattari bereits Verbreitung fanden, schien, die Idee eines solchen multiplen und dezentrierten Selbst sich konkret vorzustellen angesichts einer Realität, die doch das einheitliche Selbst dem Einzelnen tagtäglich abverlangt und dadurch nicht unerheblichen Druck auf den Einzelnen ausübt, indem sie Brüche und Abweichungen sanktioniert.:
"While in recent years, many psychologists, social theorists, psychoanalysts, and philosophers have argued that the self should be thought of as essentially decentered, the normal requirements of everyday life exert strong pressure on people to take responsibility for their actions and to see themselves as intentional and unitary actors. This disjuncture between theory (the unitary self as an illusion) and lived experience (the unitary self is the most basic reality) is one of the main reasons why multiple and decentered theories have been so slow to catch on." (Turkle 1995)
Das Leben auf dem Bildschirm scheint die Möglichkeit zu bieten, diese Kluft zwischen Theorie und gelebter Erfahrung einleuchtend -da erfahrbar- zu überbrücken: im Internet können Erfahrungen jenseits dieses "unitary self" gelebt werden, Aspekte der eigenen Persönlichkeiten, die im RL unterdrückt werden (müssen), können ausgelebt werden, es kann mit anderen Rollen gespielt werden.
Während im RL die Menschen sich zumeist innerhalb streng definierter Grenzen bewegen müssen, und ein Ausbruch aus den vorgegebenen Rollen sanktioniert wird, selbst wenn es ein Ausbruch in eine andere akzeptierte Rolle ist - man denke nur an eine berufstätige Mutter, die zum wiederholten Male von der Arbeit fernbleibt, um sich um ihr krankes Kind zu kümmern, also aus der gesellschaftlich akzeptierten Rolle der Berufstätigen ausbricht um vorübergehend in die andere, ebenfalls gesellschaftlich akzeptierte Mutterrolle zu wechseln, und dadurch Probleme am Arbeitsplatz bekommt - kann im Netz für eine bestimmte Rolle, die auszuprobieren oder auszuleben man das Bedürfnis verspürt, der entsprechende Freiraum gefunden bzw. geschaffen werden. Dies gilt vor allem für Bereiche des Lebens, die im RL noch immer stark tabuisiert sind, etwa die Sexualität, aber auch für das Abweichen von bestimmten, rigoros eingegrenzten Rollen.
Zwar könnte man anhand der Medienpräsenz sexueller Themen meinen, das Thema Sexualität sei auch in den außergewöhnlichen Bereichen längst besprochen und enttabuisiert, doch kann man aus der Anzahl der Channels und der WWW-Seiten zum Thema, sowie aus den Aussagen von Usern dieser Channels und Seiten immer wieder schließen, daß für den Einzelnen im RL oft ein großer Druck herrscht, seinen Neigungen für sich zu behalten und sie deshalb lediglich im anonymen virtuellen Raum auszuleben. Andere wiederum sammeln im virtuellen Raum erste Erfahrungen und tauschen sich mit Gleichgesinnten aus, um dann irgendwann den Mut zu finden, sich auch im RL zu ihren Neigungen zu bekennen.
Immer wieder finden sich im Netz auch Menschen, die online den Gegenpart zu der Rolle ausleben, die in ihrem RL dominiert. Ein Ausbilder der US-Armee, der sich allabendlich ins Undernet einloggt, und dort an verschiedenen Chats teilnimmt, drückt dies so aus:
"Here on the base, I am the guy who shouts at people, the tough guy who kicks peoples asses. On the net, I can lay back, I can hug people and show them that I have a heart."
Jeanne, eine siebenundzwanzigjährige US-amerikanische Biologiestudentin, die unter ihrem Übergewicht im RL stark leidet, meint:
" On the net, I can be a diva. I can be a vamp. I am beautiful because of my witty, sexy mind, and men adore me. [lacht] And if they ask about my body...well, my cyberbody is a total knock-out."
Häufig aber leben User mehrere Rollen in mehreren parallelen Umgebungen im Netz. Hier bietet sich dem Einzelnen besonders deutlich die Erfahrung von Identität als Differenz, Multiplizität, Heterogenität, als etwas Fragmentarischem, eben die Erfahrung, daß Identität nicht zwangsläufig bedeutet, immer der oder dieselbe zu sein. Diese Erfahrung der Multiplizität untergräbt, durch die Möglichkeit für den Einzelnen, gleichzeitig mehrere, sich möglicherweise sogar widersprechende Persönlichkeiten - oder Persönlichkeitsaspekte, die sich jedoch den Mit-Usern eines Channels als Persönlichkeit darstellen - zu leben, auf massive Weise die traditionellen und bis heute im Alltag vorherrschenden Ideen von Identität als Einheitlichkeit und realisiert und bestätigt die Theorien Lacans, Foucaults und Autoren ähnlicher Richtung in erfahrbarer Weise. Welche Auswirkungen dies zur Folge haben kann und wie diese Erfahrungen auf den Einzelnen wirken können, soll im Folgenden näher betrachtet werden.
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