Ich werde nicht über die Fehler anderer reden

Bhikshuni Thubten Chodron

"Ich gelobe, nicht über die Fehler anderer zu reden." In der Zen-Tradition ist dies eines der Bodhisattva-Gelübde. Für die ordinierten Mönche und Nonnen meiner Tradition wird das gleiche Prinzip im payattika-Gelübde ausgedrückt, sich der üblen Nachrede zu enthalten. Es findet sich ebenfalls in der Empfehlung des Buddha wieder, die zehn zerstörerischen Handlungen zu vermeiden, insbesondere die fünfte Empfehlung, wonach die Sprache benutzt wird, um Disharmonie zu erzeugen.

Die Motivation

Ich habe eine alte Angewohnheit, über die Fehler anderer zu sprechen. In der Tat ist es mir so zur Angewohnheit geworden, dass ich es manchmal erst im nachhinein merke, dass ich es wieder getan habe.

Was liegt dieser Tendenz zugrunde, andere schlecht zu machen? Einer meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargye, sagte immer: "Du kommst mit einem Freund zusammen und sprichst über die Fehler dieser und über die Missetaten jener Person. Dann geht es weiter, indem du die Fehler und negativen Eigenschaften wieder anderer diskutierst. Schließlich fühlt ihr beide euch gut, weil ihr darin übereinstimmt, dass ihr zwei die besten Menschen in der Welt seid."

Wenn ich nach innen höre, dann muß ich eingestehen, dass er recht hat. Selber angefüllt mit Unsicherheit nehme ich fälschlicherweise an, dass, wenn die anderen schlecht, im Unrecht oder fehlerbehaftet sind, ich selber ja wohl gut, im Recht und auch sonst tadellos bin. Funktioniert diese Strategie, die anderen runterzumachen, um die eigene Selbstachtung aufzubauen? Wohl kaum.

Eine andere Situation, in der wir über die Fehler anderer sprechen, ist, wenn wir sauer auf sie sind. Dann reden wir über ihre Fehler aufgrund einer Vielzahl von Gründen. Manchmal, um jemanden auf unsere Seite zu bekommen: "Wenn ich ihr von meinem Ärger mit Bob erzähle und sie überzeuge, dass er im Unrecht und ich im Recht bin, bevor sie mit Bob sprechen kann, dann steht sie auf meiner Seite." Was diesem Gedankengang zugrunde liegt, ist folgendes: "Wenn die anderen meinen, dass ich im Recht bin, dann ist das eine Bestätigung, dass ich da bin." Das ist ein dünner Versuch, sich selbst davon zu überzeugen, dass man in Ordnung sind, obwohl man nicht einmal daran gedacht haben, die eigenen Motivationen und Handlungen gründlich zu prüfen.

Vielleicht reden wir auch über die Fehler anderer, weil wir eifersüchtig auf sie sind. Wir wollen auch so viel Respekt und Achtung haben wie sie. Der Hintergedanke hierzu ist: "Wenn man die schlechten Eigenschaften derer sieht, die besser sind als ich, dann lobt und hilft man vielleicht mir, anstatt die anderen zu beachten und zu unterstützen." Oder man denkt: "Wenn die Chefin meint, dass jene Person unqualifiziert ist, dann fördert sie vielleicht mich." Führt diese Strategie dazu, von anderen respektiert und geachtet zu werden? Wohl kaum.

Einige Menschen "psychoanalysieren" andere, indem sie ihr Halbwissen von einer Pop-Psychologie benutzen, um andere schlechtzumachen. Kommentare wie "der ist im Grenzbereich" oder "die ist so paranoid" machen das glaubhaft, so als ob wie einen verlässlichen Einblick in die innere Vorgänge eines anderen hätten, während wir sie aber tatsächlich aufgrund ihrer Fehler verachten, weil unser Ego beleidigt wurde. Wenn man beiläufig jemanden "psychoanalysiert", dann kann das besonders verletzend sein, da es unfährerweise dazu verleitet, dass Dritte voreingenommen oder mißtrauisch sind

Die Resultate

Was passiert, wenn man über die Fehler anderer spricht? Zuerst einmal lernt man uns als Wichtigtuer kennen. Andere werden kein Vertrauen mehr in uns haben, da sie befürchten müssen, dass wir auch sie schlecht machen. Ich bin mit Leuten vorsichtig, die sich dauernd über andere beschweren. Ich stelle mir vor, dass sie vermutlich auch über mich schlecht reden werden, wenn sich die Situation ergibt. Mit anderen Worten: Ich traue niemandem, der andauernd andere kritisiert.

Und zweitens müssen wir den Personen, deren Fehler wir publik gemacht haben, auch noch begegnen können, wenn sie einaml herausbekommen, was wir über sie gesagt haben (- und das Gehörte hat sich mit der Zeit dann auch noch intensiviert). Diese Person wird vielleicht aus Rache über unsere Mängel reden, was zwar nicht gerade eine reife Reaktionsweise ist, aber zu unseren Handlungen paßt.

Drittens: Einige Menschen werden innerlich ganz aufgewühlt, wenn sie von den Verfehlungen anderer hören. Wenn zum Beispiel jemand in einem Büro oder einer Fabrik hinter dem Rücken eines anderen redet, dann könnte dass dazu führen, dass sich alle am Arbeitsplatz ärgern und sich gegen den Kritisierten verschwören. Das führt dann dazu, dass sich die Verleumdungen am ganzen Arbeitsplatz ausbreiten und es zur Zwietracht kommt. Ist das für ein harmonisches Arbeitsumfeld förderlich? Kaum.

Viertens: Sind wir glücklich, wenn wir bei anderen Fehler suchen müssen? Kaum. Wenn wir nur noch nach Fehlern oder Negativem suchen, dann ist unser Geist wohl kaum glücklich. Gedanken wie "Susanne hat ein aufbrausendes Temperament, Josef macht schlampige Arbeit, Elisabeth ist inkompetent, Sam ist unzuverlässig" sind für unsere Zufriedenheit wenig zuträglich.

Fünftens: Wenn wir schlecht über andere reden, dann schaffen wir die Bedingungen, dass andere auch über uns schlecht reden. Das kann schon in diesem Leben geschehen oder vielleicht auch in einem zukünftigen Leben. Wenn wir harsche Worte zu hören bekommen, dann sollten wir uns daran erinnern, dass es die Resultate unsere eigenen Handelns sind. Wir brachten Negatives in die Welt und unseren Geistesfluss - nun fällt es auf uns zurück. Es macht keinen Sinn, sich zu ärgern und jemand anderen zu beschuldigen, wenn wir doch selber die Verursacher unseres Problems sind.

Ziemlich ähnlich

Es gibt einige wenige Situationen, in denen es angemessen oder notwendig ist, über die Fehler anderer zu sprechen. Auch wenn diese Situationen einer Kritik an anderen sehr ähnlich sind, so sind sie dennoch nicht das gleiche. Was unterscheidet sie? Unsere Motivation.

Über die Fehler anderer zu sprechen, trägt ein Element der Böswilligkeit in sich und rührt von einer selbstbezogenen Einstellung her. Unser Ego will daraus einen Nutzen ziehen, es will gut dastehen, indem es andere schlecht aussehen lässt. Ein angemessenes Gespräch über die Fehler sollte anderer von Sorge und/oder Mitgefühl geprägt sein, wenn man zum Beispiel eine Situation klären, Schaden verhindern oder Hilfe anbieten möchte.

Schauen wir uns einige Beispiele an: Wenn wir gebeten werden, eine Beurteilung für jemanden zu schreiben, der nicht qualifiziert ist, dann müssen wir ehrlich sein und über seine Talente sprechen, aber auch über die Schwächen, so dass ein künftiger Arbeitgeber abschätzen kann, ob diese Person seinen Erwartungen überhaupt entsprechen kann. Ebenso müssen wir andere vor bestimmten Tendenzen einer Person warnen, um ein möglicherweise auftauchendes Problem abwenden zu können. In beiden Fällen steht weder die Motivation im Vordergrund, jemanden zu kritisieren, noch beschönigen wir seine Unzulänglichkeiten. Vielmehr versuchen wir eine vorurteilsfreie Beschreibung dessen zu geben, was wir sehen.

Es kommt vor, dass man der Meinung ist, dass seine negative Sicht einer Person von Vorurteilen oder mangelnder Einsicht geprägt sein könnte und man spricht mit einem Freund darüber, damit er uns helfen kann, eine anderen Blickwinkel zu finden. Das gibt uns eine unverbrauchte, konstruktivere Perspektive und Ideen, wie man mit der Person klarkommen kann. Unser Freund weist uns vielleicht auch auf unsere Automatismen hin - unsere Abwehr und sensible Bereiche -, die die Mängel anderer überbetonen, so dass wir daran arbeiten können.

Manchmal sind wir vielleicht auch von den Handlungen anderer verwirrt und wir sprechen einen gemeinsamen Freund an, um mehr über die Hintergründe der anderen Person zu erfahren, wie sie die Situation sieht, oder was wir vernünftigerweise von ihr erwarten können. Oder wir konsultieren einen Fachmann, damit wir lernen, wie man mit dieser Person umgehen kann. In beiden Fällen ist unsere Motivation, dem anderen zu helfen und die Schwierigkeiten zu lösen.

In einem anderen Fall könnte vielleicht ein Freund unwissentlich in eine dumme Sache verstrickt sein oder in einer Weise handeln, die anderen schadet. Um ihn vor den Resultaten seiner Blindheit zu schützen, darf man natürlich etwas sagen. Aber ohne kritisierende Untertöne oder eine urteilende Haltung, nur mit Anteilnahme. Wenn wir so handeln, müssen wir allerdings unsere Vorhaben loslassen, jemanden ändern zu wollen. Manchmal muß man auch aus seinen Fehlern lernen, - wir können andere nicht kontrollieren, wir können dann nur für sie da sein.

Die zugrunde liegende Haltung

Wenn man aufzuhören will, über die Vergehen anderer zu reden, dann muß man zuerst an der inneren Einstellungen arbeiten, andere immerzu beurteilen zu müssen. Auch wenn wir gar nichts zu oder über jemanden sagt, solange wir ihn innerlich niedermachen, dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass wir ihm das durch einen herablassenden Blick mitteilen, wir ihn in seinem sozialen Umfeld ignorieren oder mit den Augen rollen, immer wenn sein Name fällt.

Man kann es aber einüben, die guten Qualitäten und die Freundlichkeit einer anderen Person zu beachten. Wir müssen versuchen, eine Haltung zu kultivieren, die beachtet, was schön, gefällig, verwundbar, mutig, sich bemühend, hoffnungsvoll, freundlich und für andere inspirierend ist. Wenn wir darauf achten, dann schauen wir nicht nur auf die Mängel. Die daraus resultierende fröhliche Haltung und tolerante Sprache wird unsere Umgebung bereichern und Zufriedenheit, Glück und Liebe in uns wachsen lassen. Die Qualität unseres Lebens hängt daher davon ab, ob wir immerzu nach Fehlern suchen oder ob wir das Gute in anderen sehen können.

Die Fehler anderer zu sehen ist eine verpasste Chance zu lieben. Wir haben es nicht gelernt, in uns selber ein herzerwärmendes Verständnis wachsen zu lassen, stattdessen haben wir uns an geistige Gift-Diäten gehalten. Wenn wir uns daran gewöhnt haben, immerzu nur die Fehler anderer herauszupicken, dann machen wir das gleiche auch bei uns. Dann werten wir schließlich unser ganzes Leben herabwerten. Was für eine Tragödie, wenn man die Kostbarkeit und die einmalige Gelegenheit unseres Lebens und unseres Buddha-Potentials verpasst.

Wir müssen uns daher erleichtern, langsamer treten und uns so akzeptieren, wie wir in diesem Augenblick eben sind, während wir uns gleichzeitig darum bemühen, in der Zukunft ein besserer Mensch zu werden. Das soll nicht heißen, dass wir unsere Fehler ignorieren, aber dass wir ihnen gegenüber nicht so herablassend sind. Wir würdigen unsere eigene Menschlichkeit, wir haben Vertrauen in unser Potential und in die herzerwärmenden Qualitäten, die wir bisher entwickelt haben.

Was sind das für Qualitäten? Laßt uns die Dinge einfach halten: Es sind unsere Fähigkeiten zu hören, zu lächeln, zu vergeben, jemandem aus der Patsche zu helfen. Heutzutage haben wir völlig aus dem Blick verloren, was auf einer persönlichen Ebene wirklich wertvoll ist und schauen lieber darauf, was uns öffentlichen Beifall einbringt. Wir müssen wieder dazu zurückkommen, einfache Schönheit zu würdigen und unsere Verführung durch das schwer zu Erreichende, das Glitzernde und Wunderbare zu beenden.

Jeder möchte geliebt werden, möchte seine positiven Aspekte beachtet und gewürdigt wissen, möchte, dass sich jemand um ihn kümmert und mit Respekt behandelt. Ziemlich jeder hat Angst davor, bewertet, kritisiert und als unwert abgelehnt zu werden. Wenn man eine geistige Haltung kultiviert, die die eigene Schönheit und die der anderen sieht, dann führt das dazu, dass man sowohl selber als auch alle anderen glücklich werden; es ermöglicht es uns, Liebe zu fühlen und wachsen zu lassen. Das sollte das Herz unserer spirituellen Praxis sein. Aus diesem Grund sagte Seine Heiligkeit der Dalai Lama: " Meine Religion ist die Freundlichkeit."

Möglicherweise sehen wir immer noch unsere Unzulänglichkeit und die der anderen, aber unser Geist wird sanfter, annehmender und umfassender. Die Menschen stört es dann nicht mehr so sehr, wenn wir ihre Mängel sehen, solange sie darauf bauen können, dass wir uns um sie sorgen und dass wir würdigen, was an ihnen bewundernswert ist.

Mit Verständnis und Mitleid sprechen

Das Gegenteil davon, über die Fehler anderer zu reden, ist mit Verständnis und Mitleid zu sprechen. Das ist wesentlich für alle, die sich um eine spirituelle Praxis bemühen und mit anderen harmonisch zusammenleben möchten. Wenn wir auf die guten Qualitäten anderer schauen, dann sind wir glücklich, dass sie da sind. Wenn man die guten Qualitäten anderer anerkennt, dann wir der eigene Geist glücklich; es fördert Harmonie in der Umwelt und gibt den Menschen nützliche Rückmeldung.

Andere zu loben, sollte Teil unseres täglichen Lebens und unserer Dharma-Praxis werden. Stelle dir nur vor, wie unser Leben aussehen würde, wenn wir unseren Geist darin üben würden, auf den Talenten der anderen und ihren guten Eigenschaften zu verweilen. Wir würden viel glücklicher sein und die anderen wären es ebenso. Wir würden mit anderen viel besser umgehen; und unsere Familien, unser Arbeitsumfeld und unsere Lebenssituation würden viel harmonischer sein. Wir pflanzen die Samen dieser positiven Handlungen in unseren Geistesfluß, schaffen die Ursache für harmonische Beziehungen und Erfolg in unseren spirituellen und weltlichen Zielen.

Ein interessantes Experiment ist es, einen Monat lang jeden Tag etwas nettes zu oder über jemanden zu sagen. Versuche es. Wir werden viel achtsamer mit dem sein, was wir sagen und warum wir es sagen. Es ermutigt uns, unsere Perspektive zu ändern, so dass wir die guten Qualitäten anderer bemerken. Wenn man so handelt, dann verbessern sich unsere Beziehungen kolossal.

Vor einigen Jahren habe ich dies einer Dharma-Klasse als Hausaufgabe mitgegeben und sie ermutigt, es ruhig einmal zu probieren, jemanden zu loben, den man eigentlich gar nicht so sehr mag. In der folgenden Woche fragte ich die Schüler, wie es ihnen damit ergangen sei. Ein Mann sagte, dass er sich am ersten Tag ziemlich anstrengen mußte, um mit einer positiven Einstellung zu einen Kollegen zu sprechen. Aber danach sei der Mann so viel freundlicher zu ihm gewesen, dass es ganz einfach gewesen wäre, seine guten Qualitäten zu sehen und über sie zu sprechen!

(c) Bhikshuni Thubten Chodron, USA

Übers. Dr. Arndt Büssing, Schwerte (2002). Alle Rechte vorbehalten.