Arbeitnehmerschutz
als sittliche Grundforderung (1993)
Die Loslösung der Technik von Kultur und Ethik, das technokratische
System, das heute die Welt
beherrscht hat sich auf Kosten des phylogenetischen Anpassungsvermögens
des Menschen
durchgesetzt.
-
Anpassung, die sich über historische Zeiträume von mehreren Jahrtausenden
durch Selektion und Weiterentwicklung allmählich vollzog, kann im
heutigen Zeitraffertempo der technischen Veränderungen schon aus biologischen
Gründen nicht mehr phylogenetisch, sondern - wenn überhaupt
- nur mehr "soziogenetisch" (als
Notwehr und als Entwicklungspflege) erfolgen. Das heißt,
wo früher Lebensraum gegenüber feindlichen Naturgewalten erkämpft
und erhalten werden mußte (phylogenetische Anpassung), gilt es heute
Lebensraum vor sich verselbständigt
habenden Forderungen der Technik zu verteidigen.
-
Arterhaltende, artfreundliche
Lebenswertkultur muß sich definieren und abgrenzen -
und damit als eigene
Spezies der artreduzierenden Technikkultur gegenübertreten
(soziogenetische Anpassung, Ausformung der Standard-Präsenz).
-
Die Abgrenzung und Herausdefinition von lebenszuträglicher Lebenswertkultur
sollte dabei nicht an Höchstzulässigkeiten von Lebensabträglichkeit
(z.B. MAK-Werte) festgemacht werden, sondern an positiv förderlichen
Einheiten und Modellen aktiver Lebenswertzunahme.
Was nützt eine punktuelle Kontrolle von isolierten Arbeitsplätzen
und einzelnen Schadstoffen,
wenn weder Bewußtsein noch Empfindsamkeit für eine Veränderung
gesundheitsgefährdender
Umgebungen ausreichend entwickelt ist.
-
Auch Verwaltungsstrafen können kein Bewußtsein und keine Empfindsamkeit
erzeugen.
-
Sittliches Wohlverhalten wird nicht durch Abschreckung sondern durch nachahmenswertes
-
Beispiel gefördert. Die Verantwortung für Lebenszuträglichkeit
entspringt sittlichem Empfinden und kann vielmehr durch positive Modelle
als durch rechtliche Maßnahmen gehegt und gepflegt
-
werden.
Da jedoch Methoden und Mechanismen der Wettbewerbskultur sich auf Grundlage
des Rechts
und nicht auf Grundlage der Sittlichkeit vollziehen schämt
sich auch kein Arbeit-
geber einen Arbeitnehmer einer gesundheitsschädigenden Arbeitsumwelt
auszusetzen -
zumindest so lange bis diesem "Menschenversuch" Einhalt geboten
wird.
Angenommen, es gäbe jedoch genügend Modelle gesundheitsfördernder
Arbeitsumwelt,
wie stark wäre dann auch der soziale Anpassungsdruck eine eventuell
schädigende Arbeitsumwelt im ganzen beschämenden Ausmaß
sofort aufzudecken, anzuprangern und dem dafür Verantwortlichen die
Schamesröte ins Antlitz zu treiben. Allein die Scham-Angst jenseits
präsenter Standards zu agieren würde eine genügend hohe
Barriere zur Abwehr von Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz
erzeugen.
Doch anstatt diese positiven Modelle arterhaltender
Arbeitsumwelt zu vermehren, daß sie von allen
"gesehen" werden können, setzt
der Gesetzgeber auf das "Gehorchen" immer komplexer
werdender Regelwerke. Und verliert damit die Standard-Präsenz
als Vergleichsmaß zur Feststellung
der Zuträglichkeit von Arbeitsbedingungen. Da darf es nicht verwundern,
daß es ohne dieses
sittliche Maß zur Überbeanspruchung von Arbeitnehmern kommt,
ja sogar Grenzen der
Erträglichkeit bedenkenlos überschritten werden. Genauso
wie eine Saite bei Überspannung
zerreißt, ein Bogen bei Überbeanspruchung zerbricht, kommt
es zum Eintritt einer bleibenden
Schädigung aufgrund unzumutbarer Arbeitsplatzbelastungen.
Das Wort Sittlichkeit entstammt etymologisch derselben Wurzel
wie "Saite" und offenbart folgenden Zusammenhang: der persönlichen
Schädigung durch unzumutbare Arbeitplatzbedingungen geht als
erstes die Überspannung der sittlichen Einbindung des Arbeitnehmers
im Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber voraus - die Auslöseschwelle
der Gefährdung des Bestandes der "Saite", des gespannten Bogens zwischen
Arbeitgeber auf der einen Seite und Arbeitnehmer auf der anderen Seite,
ist durch Einheiten sittlicher Tolerierbarkeit bestimmt und nicht durch
technische Parameter von Lebensabträglichkeit (z.B. MAK-Werte).
Was sittlich tolerierbar ist ergibt sich nicht aus der zufälligen
Übereinstimmung mit augenblicklich
gerade vorliegenden gesetzlichen Schutzbestimmungen sondern wird durch
den Gradmesser der Standard-Präsenz im sozialen Anpassungsdruck
nachhaltig kontrolliert.
Der Arbeitgeber orientiert sich bei Vorliegen beispielhafter Arbeitsumweltmodelle
nicht an
technischen Richtwerten, sondern sucht sich zwischen den Modellen eine
akzeptable Nische, vor
allem um ein unangenehmes Auffallen zu verhindern und angepaßt
zu erscheinen.
Die Einhaltung dieses sittlichen Prinzips der Schaffung von lebenszuträglichen
Gegebenheiten
stellt sich auch als Rationalisierungsfaktor dar, zumal man sich durch
lebenszuträgliches Design des Grundstoffes aufwendige Maßnahmen
zur Eindämmung der Folgen der Technik wie Filter, Katalysatoren,
Aufbereitungsanlagen etc. ersparen kann.
Würde man beispielsweise endlich aromatenreduzierte Benzine (wie
in den USA bereits
eingesetzt) verwenden, könnte man sich das aufwendige Umrüsten
der Tankstellen zum
"Gasrückführen" ersparen. Es müßte nur eine Raffinerie
in Europa den modellhaften Schritt
zum aromatenreduzierten Benzin wagen und der soziale Anpassungsdruck
würde die anderen
Raffinerien bald nachziehen lassen.
Als letzter wird dann auch der Gesetzgeber reagieren und eine entsprechende
Korrektur der
Treibstofflebensabträglichkeit in seinenm komplexen Regelwerk
vornehmen (lassen).
Die Schaffung von artfreundlichen lebenszuträglichen
Modellen in verschiedenen Bereichen
menschlichen Strebens ist also wesentlich ökonomischer und sinnvoller,
als das unbefriedigende
Hinterherhinken des Gesetzgebers bei der Festlegung von zeitgemäßen
Normen und
Gefährdungstoleranzen. Die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens
des Gesetzgebers wird alle
Jahre wieder durch die MAK-Werte-Liste unter Beweis gestellt, da die
Schere zwischen
vorhandenen Arbeitsstoffen und bewerteten Arbeitsstoffen immer weiter
auseinandergeht. So sind
von über 100 000 verschiedenen Arbeitsstoffen
erst einige Hundert toxikologisch bewertet - von
einer Erfassung von Stoffgemischen ganz zu schweigen.
Statt also weiterhin umfangreiche Regelwerke und Kontrollinstanzen aufzublähen
gilt es vielmehr
lebenszuträgliche Beispiele artfreundlicher Lebenswertkultur zu
verwirklichen, damit diese
Orientierungshilfe und "sittlicher" Standard einer neuen
Spezies in deutlicher Abgrenzung zu einer
"alten", überkommenen Form von Technokratie werden kann.
Return Home